Friday, August 12, 2011

Westküstenstreiflicht (Kolumne in INFO 3 Magazin, Oktober 2011)
Bescheidener deutscher Beitrag
Ein Fernblick von der Westküste

Welches Land übt in den Augen der Welt den besten Einfluss auf die internationale Gemeinschaft aus? Die britische BBC stellt jährlich eine Rangfolge der angesehensten Nationen auf und befragt dazu rund 30.000 Menschen in 28 Ländern. Es erwies sich dabei, dass in den letzten drei Jahren der Titel immer an denselben Staat ging. Soweit muss das noch nichts Besonderes sein, doch was auffällig war: Die Medien des Umfragegewinners hielten diese eigentlich recht positive Meldung weitgehend zurück, sodass in dem betreffenden Land bis heute kaum jemand von dem stolzen Ergebnis weiss.
Ja, von Deutschland ist die Rede. Man könnte fast den Eindruck haben, die hiesigen Medien betrachteten ihre Leser als nicht für reif genug, um von der hohen internationalen Anerkennung ihres Landes zu erfahren. Gleichsam als befürchteten sie, die Deutschen würden diese Bestätigung sofort wieder in die falsche Kehle bekommen und dem Grössenwahn verfallen.
Ist solche Sorge berechtigt oder bietet nicht eher das Ergebnis der Umfrage selbst einen Hinweis auf eine mögliche kollektiv-seelische Bewältigung dieses Wahns?
Die deutsche Geistesgeschichte ist unbestritten reich und die kulturellen, wissenschaftlichen, philosophischen, technologischen, künstlerischen und gesellschaftlichen Beiträge der Deutschen in den fast 1200 Jahren ihrer Existenz kennt und schätzt die ganze Welt.
Danach war aber in der Umfrage nicht gefragt. Es ging hier nicht um die renommierten Highend-Limousinen und die legendäre industrielle Markenqualität deutscher Gegenwart. Gemeint waren auch nicht Lenas letztjähriger Eurovisions-Auftritt oder die beeindruckenden Leistungen der deutschen Fussballnationalmannschaft, die zumindest die Deutschen selbst so glücklich machen. Das Interesse galt stattdessen dem politisch-moralischen Eindruck im internationalen Vergleich. Und auch wenn manche es kaum wahrhaben wollen (siehe oben) ist Deutschland in den Augen vieler weltweiter Beobachter ein gutes Stück darin vorangekommen, seine nach Holocaust und Angriffskrieg zutiefst zerstörte Integrität und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.
Der Eindruck sieht sich bestätigt durch das Buch des britischen Journalisten Peter Watson, das in der Mai-Ausgabe von INFO3 von Martin Spura vorgestellt wurde. „Der deutsche Genius“ listet deutsche Persönlichkeiten und Qualitäten auf und wertet dabei „Innnerlichkeit“ positiv als einen zentralen deutschen Wesenszug. Das ist insofern mutig, da das heutige Deutschland seine in der Tat spezifische Innerlichkeit als vermeintlichen Wegbereiter der, wie Spura es ausdrückt , „trunkenen Neigung für die Mystizismen der nationalsozialistischen Blut- und Bodenrausches“ ablehnt und tabuisiert. Spura stimmt dem britischen Autor darin zu, dass sich jedoch eben diese deutsche Innerlichkeit zugleich auch als Quelle vieler wegweisender und kreativer Ideen und Innovationen erwiesen hat.
Wenn dem so ist, wäre es dann heute nicht an der Zeit, dass sie wieder ihren Platz in der Selbstwahrnehmung und im Bewusstsein der Deutschen einnimmt?
Da empfindsame Innerlichkeit wesenhaft zu ihnen gehört, kann es nicht anders sein. Es sollte jedoch diesmal höchste Aufmerksamkeit darin liegen, dass die sehnsuchtsvolle und geistorientierte Poesie und Philosophie der Deutschen nicht wieder mit dem mit ihr kaum verbundenen, aber ebenso deutschen materialistischen Forschungs- und Gestaltungsdrang eine pervertierte Liaison eingehen kann. Diese Doppelgestalt, so Watson und Spura, ist Teil der deutschen Seelenstruktur. Ähnlich dem indischen Evolutionsphilosophen und Yogi Sri Aurobindo war sich übrigens auch Thomas Mann der besonderen inneren Verfassung der Deutschen bewusst, die in der Sicht des deutschen Literaten “Geist und Leben, Kunst und Politik in zwei völlig getrennten Welten hält”.
So gesehen besteht auf seelischer Ebene die Selbstverwirklichung Deutschlands in der harmonischen Integration seiner beiden Wesensanteile und jede tiefere Standortbestimmung des Landes wird Fortschritte oder Rückschläge bei diesem Bemühen widerspiegeln. Ein Beispiel: Die Deutschen hatten einst in einer genuin beseelten Philosophie das Sein und Werden von Nationen beschrieben - und später gleichwohl eine furchtbare und seelenlose Realität in ihrer eigenen Nation geschaffen.
Nicht nur die zeitgenössischen US-Autoren Ken Wilber und Andrew Cohen betrachten die ursprünglichen Schulen des Idealismus und der Romantik als Höhepunkte deutscher Philosophie. Sie kritisieren sie jedoch in ihrem - und letztlich einem deutschen - Versäumnis, politischen und psychologischen Boden für ihre inneren Erkenntnisse zu finden. Aus derselben Einsicht heraus proklamierte Karl Marx auch im Hinblick auf Hegel, dass Philosophie die Welt nicht (nur) interpretieren, sondern sie (auch) verändern soll.
Immerhin gibt der Blick auf die Deutschen in der erwähnten BBC-Umfrage Anlass zu vermuten, dass sich zumindest im deutschen Innenleben etwas verändert haben könnte. Vielleicht spiegelt die zum Ausdruck kommende Wertschätzung einen geglückten Schritt bei der erwähnten inneren Integrationsaufgabe des Landes. Dann ist es dieser kollektive Seelenprozess, der heute eine wichtigere Botschaft birgt als die Ideen und Produkte des deutschen Geistes- und Wissenschaftsbetriebs. Was an ihm sichtbar werden kann, ist die weitgehende Läuterung einer Nation angesichts ihrer vorangegangenen und katastrophalen seelischen Verirrung. Es spricht für die Deutschen, dass dieser Prozess der äusseren und inneren Wiedergutmachung, um auf einen fast kindlich anmutenden Ausdruck zurückzugreifen, ohne allzuviel internationalen und nationalen Pathos vonstatten ging. Er vollzieht sich sogar in so integrierter Form, dass die heilenden Auswirkungen seiner inneren Dynamik von den Beteiligten kaum wahrgenommen werden. Deshalb braucht es mitunter den Blick von aussen, um sich selbst (neu) zu bestimmen.
Von der fernen Westküste aus gesehen, nachfolgend einige der Punkte, von denen man annehmen könnte, sie seien der Wertschätzung der BBC-Befragten zugrunde gelegen. Sie sind grundsätzlicher Art, gehen also über verbliebene Widersprüche und kontroverse Tagesaktualitäten hinaus.
Wir wissen, dass viele der heutigen Nationen Schwierigkeiten haben, sich nachhaltig zu dunklen Teilen ihrer Vergangenheit zu bekennen. Als Beispiele zu nennen wären etwa die Genozide an nordamerikanischen Indianern und türkischen Armeniern, die Gräuel japanischer Besatzung in China oder das zumindest teilweise Leugnen serbischer Massaker im Bosnienkrieg. Jedes Land braucht seine eigene Zeit zur Verarbeitung und alle wissen oder spüren, wie viel dem entgegensteht, sich den kollektiven Schatten zuzuwenden. Die Deutschen scheinen bisher eines der wenigen Beispiele einer Nation zu sein, die relativ klar und unmißverständlich Verantwortung für ihre belastete Vergangenheit übernommen hat. Das Land zeigte und zeigt seine Bereitschaft, inneren und äusseren Ausgleich zu leisten und gegenüber Opfern und Tätern Konsequenzen aus dem Geschehen zu ziehen. Nicht zuletzt können die Deutschen akzeptieren, dass ihr Land um rund ein Drittel reduziert wurde, ohne dass sie, wie in der Vergangenheit, mit Revisionsforderungen neue Konflikte herauf beschwören würden.
Vielleicht am eindrucksvollsten aber ist für den distanzierten Betrachter, dass Deutschland zwar seine Stärke wiederfand, sich jedoch nicht erneut von der eigenen Macht korrumpieren liess. Diese geläuterte „Bescheidenheit des Starken“ ist es, die auf eine friedliche transnationale Transformation der scheinbar übermächtigen nationalen Egoismen hoffen lässt. Eine Hoffung und Vision dieser Art wird von der Realität heutiger Nationen bisher noch wenig unterstützt und ein gelebtes Beispiel dafür findet deshalb umso mehr Anerkennung.
Die Deutschen sollten und dürften die Ergebnisse der BBC-Umfrage also ruhig erfahren.

Wolfgang J. Schmidt-Reinecke lebt als Autor und Journalist in den USA. Derzeit arbeitet er an einem Buch mit dem Titel: „Die Evolution unserer nationalen Identität“. Mit seiner Partnerin Soleil Lithman bietet er zu diesem Thema in Deutschland und anderen Ländern Präsentationen und Erfahrungsworkshops. Seine Website: www.sunwolfcreations.com