Monday, November 14, 2011

Von echten Mythen und verfälschten Inhalten - Ideologien der Alltagssprache

Westküstenstreiflicht Januar 2012, INFO 3

Die USA und Deutschland sind durch einen Ozean und diverse Welten getrennt und gleichwohl in manchen populären Trends vereint. So etwa im Hinblick auf einen untergründigen Sprachgebrauch in Medien und Alltagskommunikation. Hier wie dort besteht ein bisher kaum wahrgenommener Stil in der inflationären Verwendung von Begriffen mystischer und mythischer Tradition in gewandelter und meist negativer Bedeutung.
Das Phänomen ist insofern bemerkenswert, als es eine Schlacht von gestern zu wiederholen scheint. Immerhin geben Aufklärung und positivistische Wissenschaft heute im Grossteil Europas und in massgeblichen Teilen der USA den Ton an und Religion sieht sich eher in Reservate abgeschoben. Doch vielleicht beziehen sich diese obsolet anmutenden Begriffsusurpationen nicht nur auf tradierte Formen, sondern richten sich auch prophylaktisch gegen neue und als bedrohlich wahrgenommene evolutionäre Wendungen. Rudolf Steiner lehrte in Deutschland schon vor 100 Jahren - und integrale Lehrer wiederholen es heute in den USA und weltweit - dass wir der Renaissance einer postrationalen und neu interpretierten Spiritualität entgegengehen. Was bedeutet es also in diesem Zusammenhang, wenn tradierte spirituelle Definitionen Markt und Medien preisgegeben werden?
Nehmen wir den Mythos, einen der zentralsten Begriffe einer früher überall und in Teilen der Welt noch heute dominierenden Bewusstseinshaltung. Mythos ist das griechische Wort für Geschichte, im Sinn von Erzählung. Mythen in ihrer traditionellen Bedeutung sind Schilderungen von der primordialen, d.h. der ursprünglichen Herkunft, Entstehung und eventuell auch Erlösungsoption von Mensch und Welt. Für den Religionstheoretiker und Philosophen Mircea Eliade ist ein Mythos immer ein Schöpfungsbericht. Durch ihre Verknüpfung mit den Schöpfermächten, so Eliade, bringen Mythen das Heilige, das Sakrale in die Welt. In traditionellen Gesellschaften wie im Kern auch in religiösen Gemeinschaften verkörpert und manifestiert der Mythos die absolute und einzige Wahrheit.
In heutiger Alltagssprache erfährt der Begriff eine fast vollständige Bedeutungsumkehr. Mythos steht nahezu synonym für eine zwar populäre, gleichwohl aber interessengebunden fabrizierte und unwahre Vorstellung. Diese neuen Anti-Mythen beziehen sich nicht mehr auf Sakrales, sondern vor allem auf Triviales. “10 Mythen über Schlankmacher” unterstellt, dass der Leser verbreiteten, nichtsdestoweniger irrigen und wahrscheinlich manipulierten Maximen über bestimmte Diäten anhängt. Und dass jetzt mit diesem Unsinn aufgeräumt und dem uninformierten Zeitgenossen die faktische Wahrheit nahegebracht wird.
Da wir Mythen jedoch in den Tiefen unserer kollektiven Erinnerung als offenbarte und überlieferte Zeugnisse unserer transzendenten Abstammung bewahren, bedeutet dieser trivialisierte und diffamierte Sprachgebrauch nichts anderes, als dass wir uns täglich und tausendfach des aufgeklärten Irrtums über unsere Herkunft versichern.
Nachdem dann erstmal der MYTHOS der Mythen durchschaut zu sein scheint, kann man auch hinter anderen Begriffen deren wahre Intention deutlich machen. Die als persönliche Meister einst hoch respektierten Lehrer östlicher Spiritualität lassen sich in der Gegenwart unschwer als Finanz-GURUS entlarven, die wie alle anderen Exemplare des Beratertypus' mit Vorsicht zu geniessen sind. Von AVATAREN, früher einmal leibhaftige Verkörperungen des Göttlichen wie Christus oder Krishna, erwarten wir heute lediglich, dass sie als aufgehübschte Projektionen unserer selbst in virtuellen Welten Bekanntschaften für uns tätigen oder bestenfalls in Hollywood-Filmen um Verständnis für Wilde werben. Wem das alles zu ESOTERISCH anmuten sollte, kann dabei mithelfen, den UNGEIST dieser Filme und Spiele zu entlarven und sie gründlich zu DEMYSTIFIZIEREN. Zu viele Foren und Medien gibt es schliesslich, in denen irgendwelche FriedensAPOSTEL “IHRE” WEISHEITEN verkünden. Falls wir einem dieser mit der AURA des Erhabenen herumlaufenden SCHEINHEILIGEN der NEW AGE-Szene auf den Leim gegangen sind, empfiehlt sich der SEELENarzt. In jedem Fall sollte die Öffentlichkeit über all diese dubiosen Zusammenhänge etwas mehr MEDITIEREN.
Es scheint verständlich, dass der amerikanische Philosoph Ken Wilber die ursprüngliche Bedeutung metaphysischer Begriffe weitgehend als verlorenes Terrain ansieht. Er proklamiert stattdessen ein postmetaphysisches Zeitalter und führt für spirituelle Positionen eine neue, eher intellektuell klingende Terminologie ein. Es ist dies vielleicht eine Variante des Traums vom jederzeit machbaren Neubeginn in einem Land, dessen Möglichkeiten dank seiner kurzen Vergangenheit kaum begrenzt zu sein scheinen. Konsequenterweise findet man in den USA derzeit integrale Lehrer, die für einen Kurs zum Thema “The Five Spiritual Myths that Sabotage Your Conscious Evolution” werben.
Demgegenüber könnten sich diejenigen Teile der Welt mit einer jahrhunderte- oder jahrtausendealten Geistestradition und Seelengeschichte durch ihre historischen Interpretationen zwar mehr gebunden, doch zugleich auch bereichert empfinden. Die geistorientierte Philosophie der Deutschen erreichte mit den Schulen des Idealismus und der Romantik einen ihrer Höhepunkte. Heute werden IDEALISTEN und ROMANTIKER als TRÄUMER belächelt, also als bemitleidenswerte und naive Zeitgenossen angesehen. Und damit wird ein eminenter Teil deutscher Vergangenheit und Identität abgespalten und entwertet, auch das alltäglich und tausendfach. Doch selbst wenn wir das bedauern, können wir diese Begriffe nicht der Einfachkeit halber ersetzen: sie sind historisch vorgegeben. Europäische Integralität und die Integralität von traditionellen Kulturen im allgemeinen kann also statt in der Eliminierung eher in der transformierenden Neubewertung geistiger Qualitäten und Begrifflichkeiten der eigenen Vergangenheit liegen.
Und eigentlich sollten wir ja zu unterscheiden gelernt haben. Deutschland und Europa mussten in bitteren Lehren erfahren, dass es ohne Zweifel böswillig fabrizierte und falsche Mythen gibt. Wer hier differenzieren kann, wird heute auch bei authentischen Mythen nicht mehr die ganze und einzige Wahrheit suchen. Doch er oder sie wird wissen, dass mythische Perspektiven ihren Platz im Gesamtbild eines multiperspektivischen und evolutionär komplexeren Bewusstseins haben.
Wir können also das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Wir müssen in neuer Kulturtechnik lernen, falsche von echten Gurus zu unterscheiden. Es gilt durchaus eine angemasste Erhabenheit zu demystifizieren, aber zugleich gilt es unsere Offenheit zu bewahren, wenn wir wirklichen Mysterien begegnen wollen. Wir sollten in der Lage sein wahrzunehmen, dass jenseits des schillernden New Age-Zirkus' tatsächlich eine neue Bewusstseinsepoche heraufzieht und dass Meditieren nicht ein anderes Wort für Grübeln bedeutet, sondern die völlige Loslösung von allen Gedanken erfahrbar macht. Und ja, der in der integralen Bewegung in den USA übliche (und in seiner Übersetzung missverständlich klingende) Term "Einzigartiges Selbst”  verweist auf nichts anderes als die Seele. Allerdings auf eine neu definierte Seele, nicht eine, die andere “heilen” können oder für die andere “seelsorgen” müssten. Stattdessen ist heute unsere eigene, mit allem und allen verbundene und zugleich unverwechselbar individuelle Seele unsere tiefste Instanz und Orientierung.
Mit post-postmodernen Grüssen.